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Eine Katastrophe mit Ansage - Meteorologe: Ausflüchte der Politik „Total daneben“

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Von: Kathrin Braun

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Nach dem Unwetter in Nordrhein-Westfalen
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU, r.) und NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU, l.): Sie besuchten die betroffenen Gebiete. Hätte die Katastrophe verhindert werden können? © Roberto Pfeil/dpa

Fünf Tage nach der Hochwasserkatastrophe im Westen Deutschlands kommen Fragen auf: Wie konnte das passieren? Wissenschaftler haben schon Tage im Voraus gewarnt.

München/Euskirchen – Dominik Jung zeigt aufgeregt auf den knallroten Bereich in der Deutschlandkarte hinter sich. „Regen, Regen und kein Ende – es wird richtig gefährlich, vor allem in diesen Regionen“, sagt er und deutet auf den Westen des Landes. So beginnt das Video, das der Meteorologe am vergangenen Dienstag auf Youtube hochgeladen hat. Titel: „Lebensgefahr: Regenfluten überschwemmen Keller und Häuser!“ Zwei Tage später stehen tausende Menschen vor den Trümmern ihrer Existenz. Hunderte sind verletzt. Bis Montag wurden 164 Tote gezählt. Die Polizei rechnet mit weiteren. Die Zahl der Vermissten ist allein in Rheinland-Pfalz noch in einem vierstelligen Bereich. „Es war Katastrophe* mit Ansage“, sagt Jung nun unserer Zeitung. „Ich weiß wirklich nicht, was da schiefgegangen ist.“ Mehrere Meteorologen hätten bereits Tage vorher genau gemeldet, wo es wie viel regnen wird.

Auch vom Deutschen Wetterdienst (DWD) heißt es: Früher hätte man nicht vor dem Unwetter warnen können. Marcus Beyer, DWD-Meteorologe, sagt: Schon ab vergangenem Montagmorgen habe es die ersten Vorwarnungen gegeben. „Warum sind so viele Menschen gestorben?“, twitterte er. Der DWD habe die Unwetterwarnungen am Dienstagmorgen über MOWAS – ein Katastrophen-Warnsystem des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe – rausgegeben. „Trotz der langen Vorlaufzeit konnten so viele Menschen nicht geschützt werden und mussten sterben“, sagt Beyer. „Was sind die Warnungen wert, wenn so viele Menschen sterben?“

Britische Hydrologin wirft Deutschland „monumentales Systemversagen“ vor

Jetzt, da die akute Gefahrenlage in den Katastrophengebieten gebannt ist, beschäftigt die Bevölkerung genau diese Frage. Nicht nur Meteorologen haben vor der Flut gewarnt. Die britische Hydrologin Hannah Cloke wirft Deutschland ein „monumentales Systemversagen“ vor. Vier Tage vor dem Hochwasser hätten die deutschen Behörden über das europäische Frühwarnsystem EFAS genaue Hinweise bekommen, sagt die Hochwasser-Expertin der „Times“ in London. Das Rheinland sollte nach Satellitendaten von „extremen Überschwemmungen“ getroffen werden, vor allem entlang der Erft und der Ahr und in Städten wie Hagen und Altena. Cloke selbst hat an der Entwicklung von EFAS mitgearbeitet. Ziel sei, Menschen früh genug vor Katastrophen zu schützen. Eigentlich.

Die Todeszahlen zeigen: Die dringlichen Warnungen sind nicht bei der Bevölkerung angekommen. In Sinzig in Rheinland-Pfalz sind zwölf Bewohner einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen ertrunken. Laut ZDF habe es eine Evakuierungsmeldung für Gebiete 50 Meter links und rechts der Ahr gegeben. Das Wohnheim lag rund 200 Meter entfernt.

Wo ist die Warnkette gebrochen? In der Politik ist nun darüber eine Debatte entbrannt. FDP-Fraktionsvize Michael Theurer sieht schwere Versäumnisse, für die „Bundesinnenminister Seehofer* unmittelbar die persönliche Verantwortung trägt“. Die FDP-Fraktion hat eine kurzfristige Sondersitzung des Innenausschusses beantragt. Seehofer müsse darlegen, was die Bundesregierung wann genau wusste – und was daraufhin unternommen wurde.

Horst Seehofer ist zum Gegenangriff übergegangen

Seehofer (CSU) ist daraufhin zum Gegenangriff übergegangen. Manches an der derzeit geäußerten Kritik sei einer „ganz billigen Wahlkampfrhetorik“ zuzuordnen, sagt er bei einem Besuch an der Steinbachtalbrücke in Euskirchen. Dies sei fast schäbig. Der Innenminister ist gestern in die schwer betroffenen Gebiete gefahren. Für ihn hätten die Meldewege von Seiten des Bundes funktioniert. Auf der Ebene der Bundesländer wolle er sich nicht dazu einmischen.

Regierungssprecherin Martina Fietz räumt ein, es gebe beim Katastrophenschutz „kontinuierlichen Verbesserungsbedarf“. Aber: Nach dem Grundgesetz seien dafür die Länder zuständig.

Der Schwarze Peter wird reihum weitergegeben. Auch das Innenministerium in NRW weist die Schuld von sich. Es habe die Unwetterwarnungen des DWD an die Städte und Kreise weitergeleitet. Über Schutzmaßnahmen sei vor Ort zu entscheiden, sagt ein Sprecher. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sagt bei Bild live, dass der Katastrophenschutz in seinem Land „keine grundsätzlichen Probleme“ habe. Es habe aber auch nicht alles „100-prozentig funktioniert“.

Meteorologe Dominik Jung: Altmeier-Aussage „Total daneben“

Karl Lauterbach (SPD) sagt zur Rheinischen Post: „Beim Katastrophenschutz sind wir genauso schlecht vorbereitet wie beim Pandemieschutz.“ Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock sagt dem Spiegel, man brauche „eine Instanz, die alle Kräfte bündelt, die schnellstmöglich aus ganz Deutschland oder EU-Nachbarstaaten Hubschrauber oder Spezialgeräte zusammenzieht.“ Sie fordert keine Zentralisierung, aber eine „Zentralstellenfunktion“ für den Bevölkerungsschutz – wie bei der Bundespolizei.

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) sagt, dass es nicht um Schuldzuweisungen gehe. Die Flut sei in einer unerwarteten Jahreszeit gekommen, sodass „die Menschen nicht Stunden oder Tage hatten, um sich vorzubereiten“. Meteorologe Dominik Jung ist schockiert über diese Aussage. „Total daneben“, findet er. Kathrin Braun mit dpa/afp (*Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA)

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