Lawrows „Kreml-Propaganda will uns in die Irre führen“: Hunger und Not wegen „Krise auf der Krise“

Russland will keine Hungerkrise aufgrund des Ukraine-Krieges sehen. Doch die Lage ist ernst, sagen Renate Künast (Grüne), Albert Stegemann (CDU) und Christoph Hoffmann (FDP).
Odessa - Derzeit scheint es einen Krieg um Getreide zu geben. Im eskalierten Ukraine-Konflikt spielen die Körnerfrüchte eine entscheidende Rolle. Der russische Außenminister Sergej Lawrow ist sogar in die Türkei gereist, um einen Getreide-Deal einzufädeln.
Lawrow nutzte die Gelegenheit, um den russischen Blick auf die globale Versorgungslage zu zeichnen. Putins Vertrauter warf dem Westen vor, die Probleme beim Export von ukrainischem Getreide als eine „Katastrophe“ inszenieren und eine Lebensmittelkrise heraufbeschwören zu wollen. Tatsächlich ist eine solche momentan in immer mehr Ländern zu beobachten. Agrarexperten von CDU, Grünen und FDP klären auf und greifen Russland gegenüber Merkur.de scharf an.
Ukraine-Krieg: Lawrows „Kreml-Propaganda“ - Hunger und Not als Folgen des Krieges
„Die Kreml-Propaganda will uns in die Irre führen“, meint die frühere Bundeslandwirtschaftsministerin Renate Künast (Grüne). „Lawrow versucht mit dieser Aussage, den Informationskrieg zu befeuern“, argumentiert der FDP-Politiker Christoph Hoffmann. „Das ist Teil der russischen Propaganda“, sagt der agrarpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Albert Stegemann.
Fakt ist: Sowohl Russland als auch die Ukraine zählen zu den größten Getreideexporteuren der Welt. Sie sind verantwortlich für rund 20 Prozent des Bedarfs an Mais, rund ein Drittel ist es beim Weizen, fast zwei Drittel beim Sonnenblumenöl. Beide Länder haben also auch in Kriegs-fernen Zeiten erheblichen Einfluss auf die weltweite Versorgungslage.
Im Ukraine-Krieg stockt jedoch der Export. Russland blockiert die Ausfuhr von ukrainischem Getreide. Insgesamt 20 Millionen Tonnen warten darauf, exportiert zu werden. Die meisten davon im Hafen von Odessa. Von der südukrainischen Hafenstadt aus geht es größtenteils nach Nordafrika und Asien – wo die ausbleibenden Lieferungen von Weizen, Sonnenblumenöl und anderen Gütern wie Dünger für große Probleme sorgen.
Ukraine-Krieg: „Eine Welle von Hunger und Armut“
„Die fehlenden Getreidelieferungen befeuern die angespannte Versorgungslage mit Lebensmitteln“, sagt CDU-Politiker Stegemann. Auch die Vereinten Nationen sind bereits alarmiert: „Für Menschen auf der ganzen Welt droht der Krieg in der Ukraine eine beispiellose Welle von Hunger und Elend auszulösen und ein soziales und wirtschaftliches Chaos zu hinterlassen.“
Zu spüren bekommt das etwa Somalia, wo die UN vor einer riesigen Hungerkatastrophe warnen. FDP-Mann Hoffmann, Vize-Vorsitzender im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, sieht „eklatante Auswirkungen auf die weltweite Ernährungssicherheit“ und „eine Welle von Hunger und Armut“ in Jemen, Syrien, Afghanistan und vor allem in Afrika. „In der Maghreb-Region sind die Lebensmittelvorräte im Herbst aufgebraucht.“ Künast nennt das sehr auf Getreideimporte angewiesene Ägypten als Krisenverlierer. Hoffmann befürchtet „soziales und wirtschaftliches Chaos“ als Folge einer Hungerkatastrophe und meint: „Die drohende Instabilität belastet die sicherheitspolitische Lage weltweit, auch in Europa.“
Video: Vereinte Nationen warnen vor „beispielloser Welle von Hunger und Elend“
Ukraine-Krieg „als Krise auf der Krise“: Corona, Klima, Inflation
Die Gefechte in der Ukraine verschlimmern die weltweite Versorgungslage – sind dabei aber nicht der alleinige Faktor. „Der Ukraine-Krieg wirkt wie eine Krise auf der Krise“, sagt Stegemann. Ähnlich argumentiert Künast. Die Grünen-Politikerin sieht derzeit einen „perfect storm“ mehrerer Ereignisse, der alles andere als positiv sei. „Mit Corona, dem Angriff auf die Ukraine, der Klimakrise, dem massivem Verlust an Biodiversität und rapide steigenden Kosten in der Versorgungskette haben sich mehrere Krisen bedrohlich übereinander gelegt.“
Der Hunger grassiert seit Jahren. „2020 hungerten etwa 811 Millionen Menschen, angemessener Zugang zu Nahrung fehlte zusätzlichen 2,37 Milliarden Menschen“, sagt Künast. Neben dem Ukraine-Krieg trifft ärmere Länder dabei vor allem der Klimawandel, wie auch Stegemann schildert. „Indien, der zweitgrößte Weizenproduzent der Welt, erwartet aufgrund der Hitzewelle schlechtere Ernten.“ Ein Problem, das weitere Probleme nach sich ziehe. „In der Folge hat Indien seine Weizenexporte gestoppt, was wiederum zu Unsicherheiten und weiteren Preisaufschlägen auf dem Weltmarkt führt.“

Die russische Invasion in der Ukraine muss beendet werden.
Laut Angaben der Vereinten Nationen leiden derzeit mindestens 1,6 Milliarden Menschen an einer vielschichtigen Krise aus Krieg, Corona und Klimawandel. Die Zahl der Menschen, die mangelhaft mit Nahrungsmitteln versorgt seien, habe sich in den vergangenen zwei Jahren verdoppelt, sagte UN-Generalsekretär António Guterres Anfang Juni. „Es gibt nur einen Weg, diesen aufziehenden Sturm zu stoppen: die russische Invasion in der Ukraine muss beendet werden.“
Ukraine-Krieg: Auswirkungen auch in Deutschland spürbar
Auch in Deutschland zeigen sich die Auswirkungen des Getreidestopps. Zum Beispiel beim Speiseöl. Auch wegen des Krieges sind die Preise so hoch. Aber: „Die Versorgung mit Lebensmitteln in der EU und in Deutschland ist derzeit nicht gefährdet“, wie es in einer Antwort des Grünen-geführten Landwirtschaftsministerium auf eine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion heißt.
Deutschland ist nicht so stark abhängig von Importen aus Russland oder der Ukraine wie Entwicklungsländer. Die Bevölkerung spürt die Auswirkungen dennoch, etwa an der immer weiter steigenden Inflation. „Die Regale im Supermarkt sind weiter gefüllt“, sagt Künast. „Aber auch in Deutschland führen die steigenden Preise dazu, dass viele Menschen sich aus der vorhandenen Auswahl im Supermarkt immer weniger leisten können.“

Hunger und Not durch Ukraine-Krieg: Wie kann die Lage verbessert werden?
Gibt es einen Ausweg aus der Krise? Kurzfristig könnte ein Wiederaufnehmen des ukrainischen Exports zumindest für kleine Entspannung sorgen. „Doch darauf können wir uns angesichts des unberechenbaren Verhaltens des Kreml nicht verlassen“, sagt Künast. Ein weiteres Problem: Viele Anbauflächen sind zerstört. Wie viele, ist unklar. Vom Bundeslandwirtschaftsministerium heißt es: „Ukrainische Quellen gehen von einer Reduzierung der Weizen- und Sonnenblumenernte um mehr als ein Drittel und bei Mais um rund die Hälfte im Vergleich zum Vorjahr aus.“ Die gesamte Frühlingssaat könne so nur auf 70 bis 80 Prozent der Agrarfläche erfolgen.
Auch nicht vom Krieg zerstörte Felder sind teilweise unbrauchbar. Denn für die Landwirtschaft existenzielle Betriebsmittel wie Treibstoff, aber auch Saatgut und Dünge- und Pflanzenschutzmittel sind rar. „Infolgedessen ist damit zu rechnen, dass sich die Lage nächstes Jahr noch deutlich verschärft“, sagt FDP-Mann Hoffmann.

Künast zum Ukraine-Krieg: „Ansonsten sind die Ärmsten der Armen massiv von Hunger bedroht“
Um die globale Lebensmittellage zu verbessern, müsse man sich aber auch von der Ukraine lösen und den Blick erweitern, argumentieren die Agrarexperten von CDU, Grünen und FDP. Stegemann spricht von einer „agrarpolitischen Zeitenwende“, die sich laut Künast auch im massiven Senken der Lebensmittelpreise widerspiegeln muss. „Ansonsten sind die Ärmsten der Armen massiv von Hunger bedroht.“
Die Bundesregierung will insgesamt 430 Millionen Euro gegen Ernährungskrise bereitstellen. Davon fließen 42 Millionen Euro als zusätzlicher deutscher Beitrag zum Welternährungsprogramm. Künast fragt sich, „ob sich das Welternährungssystem nicht in einer Schieflage befindet, wenn das Ausfallen einer Exportregion zu so massiven Problemen auf der ganzen Welt führt.“ Ziel müsse es sein, dass sich von Importen abhängigen Länder künftig selbst ernähren können. „Das wird auch bei uns eine effizientere Nutzung der Flächen bedeuten, schließlich landet der überwiegende Teil unseres Getreides in Trog und Tank, nur knapp ein Fünftel auf dem Teller. Die Devise sollte doch heißen: Teller first.“
Mittel- und langfristig brauche es auch „eine bessere Nahrungsmittelsouveränität der gefährdeten Staaten“, sagt Hoffmann. „Akute Hilfe kann auch die Vermeidung von massiven Nachernteverlusten in Entwicklungsländern leisten, indem Deutschland Säcke bereitstellt, die luftdichtes Einschweißen von Getreide ermöglichen.“

Ukraine-Krieg: CDU-Mann entlarvt Lawrows Getreide-„Propaganda“
Zurück zu Lawrow. Er argumentierte in Ankara, dass der Anteil von ukrainischem Getreide im Weltmarkt bei weniger als einem Prozent liege. Dies führe sicherlich nicht zu einer Lebensmittelkrise. Stegemann findet das perfide und einen Versuch von Lawrow, „die alleinige Schuld Russlands an diesem Angriffskrieg und seinen Folgen für die Ukraine und die Welt von sich zu weisen sowie gleichzeitig die Blockade der ukrainischen Häfen durch russische Kriegsschiffe aufrechtzuerhalten“.
Es sei richtig, dass die Ukraine bei der weltweiten Weizenproduktion im niedrigen einstelligen Bereich liegt. „Aber die Produktion sagt wenig aus, denn die größten Produktionsländer erzeugen hauptsächlich für den Eigenbedarf. Die Ukraine aber nicht. Sie beliefert dutzende von Ländern mit Getreide. Nur rund ein Drittel der Getreideproduktion wird überhaupt in der Ukraine abgesetzt.“ Heißt: Der Ukraine-Krieg hat sehr wohl enorme Auswirkungen auf die Lebensmittelversorgung, gerade in Entwicklungsländern. Auch, oder gerade weil man das im Kreml anders sieht. (as)