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Ukraine spielt Fußball trotz Krieg: „Wir müssen dem Feind zeigen, dass wir nicht zu brechen sind“

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Von: Andreas Schmid

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Personen gehen auf dem Gelände des Olympischen Sporttrainingszentrums in Tschernihiw an einem Trümmerhaufen vorbei, nach Abzug russischer Truppen.
Ein vom Krieg zerstörtes Stadion: das Olympische Sporttrainingszentrum in Tschernihiw. © picture alliance/dpa/Ukrinform

Weite Teile der Ukraine sind vom Krieg gezeichnet. Dennoch wird dort seit August wieder Profifußball gespielt. Die Angst vor Angriffen ist stets präsent.

Kiew – Ein Spiel dauert 90 Minuten: Diesen Satz prägte Deutschlands Weltmeistertrainer Sepp Herberger. In der ukrainischen Fußballliga lagen im August vier Stunden und 25 Minuten zwischen An- und Abpfiff. Die Partie Ruch Lwiw gegen Metalist Charkiw musste dreimal wegen Luftalarms unterbrochen werden, Spieler und Vereinsverantwortliche flüchteten in einen nahegelegenen Luftschutzbunker. Das gehört zu den Sicherheitsauflagen, unter denen die ukrainische Premjer Liha ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn neu startete. Es ist eine Saison unter beispiellosen Umständen.

Ukraine: „Fußball gegen den Krieg, Fußball für den Frieden“

„Es wird ein einzigartiger Wettbewerb“, sagte der ukrainische Fußball-Verbandschef Andrij Pawelko vor dem Saisonstart. „Fußball gegen den Krieg unter den Bedingungen des Krieges, Fußball für den Frieden.“ Weil russische Angriffe vor allem in der Süd- und Ostukraine drohen und dort einige Stadien zerstört wurden, werden sämtliche Partien in Kiew oder im Westen des Landes ausgetragen. Wie die neuerlichen russischen Angriffe auch auf Kiew die Liga beeinflussen, ist unklar. Zuschauer sind bei den Spielen nicht zugelassen, viele ukrainische Ultras haben sich der Armee angeschlossen.

Dieser Artikel stieß im Oktober 2022 auf besonderes Interesse und besitzt nach wie vor Relevanz. Deswegen präsentieren wir ihn zum Jahresende erneut.

Die Vereine Sorja Luhansk und Shakhtar Donezk sind das Ausweichen in fremde Arenen schon gewohnt. Seit Jahren spielen sie aufgrund von Sicherheitsbedenken nicht im Donbass, sondern in Lwiw oder Charkiw. Die Klubs Desna Tschernihiw und FK Mariupol hingegen sind gar nicht dabei. Die Vereinsanlagen sind zerstört, einige Spieler und Klubverantwortliche in den Krieg gezogen. An Fußball ist in den Orten nicht zu denken. Tschernihiw an der belarussischen Grenze wird immer wieder von russischen Raketen heimgesucht, das zerbombte Mariupol gilt laut den Vereinten Nationen als „Ort mit der höchsten Sterblichkeitsrate in der Ukraine“. In den finanziell schwächer aufgestellten unteren Ligen fehlen noch mehr Vereine.

Auch in Bachmut in der Region Donezk ist das Fußballstadion zerstört.
Auch in Bachmut in der Region Donezk ist das Fußballstadion zerstört. © IMAGO/Anna Opareniuk

Fußball trotz Ukraine-Krieg: „Wir müssen dem Feind zeigen, dass wir nicht zu brechen sind“

Für die übrig gebliebenen Klubs stellt der Ligaalltag ein Stück weit Normalität dar. Kriegsablenkung durch den Sport. „In einer solchen Situation ist es wichtig, weiter Fußball zu spielen und dem Feind zu zeigen, dass wir nicht zu brechen sind“, sagt ein Vertreter des Erstligisten Kolos Kowaliwka unserer Redaktion.

Vom Verein SK Dnipro 1 heißt es auf Anfrage des Münchner Merkurs von IPPEN.MEDIA: „Fußball ist eines von mehreren Dingen, die unserem Volk helfen, schwere Zeiten zu überstehen: für die Zivilbevölkerung und für die Soldaten. Fußball erinnert die Soldaten an ein friedliches Leben, an ihre Familien und hilft ihnen, stark zu bleiben und weiterzukämpfen.“

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Fußball in der Ukraine: „Das Wichtigste ist, dass wir den Krieg gegen Russland gewinnen“

Kolos Kowaliwka aus der Region Kiew spielt als einer der wenigen Klubs im eigenen Stadion. „Aber das ist nicht das Wichtigste“, heißt es, ehe es politisch wird: „Das Wichtigste ist, dass wir den Krieg gegen Russland gewinnen.“ Auch in der Antwort des FC Oleksandriya schwingen die Antipathien gegenüber Russland mit. „Glücklicherweise wurden unser Stadion und die Infrastruktur des Vereins nicht durch den Feind beschädigt.“ Der Klub aus der Zentralukraine darf allerdings nur zu Hause spielen, wenn das gegnerische Team zustimmt. Aufgrund von Sicherheitsbedenken war das bei den bisherigen Spielen nicht der Fall.

Dnipro hingegen hat ohnehin nur „Auswärtsspiele“. In der Liga startet der Verein aus dem Südosten im mehr als 1000 Kilometer von der Heimat entfernten Uschgorod im Westen, in der Uefa Europa Conference League treten sie in der Slowakei an. Der europäische Fußballverband Uefa erlaubt keine internationalen Spiele auf ukrainischem Boden. Deswegen tragen Shakhtar Donezk und Dynamo Kiew ihre Europapokalspiele in Polen aus.

Die Spieler von Dnipro warten im Luftschutzbunker
Auch ein Ligaspiel von Dnipro musste bereits unterbrochen werden. Die Spieler warteten im Luftschutzbunker. © SC Dnipro-1 /Sergiy Kozin (fkn)

Fußball trotz Ukraine-Krieg: Die Liga wird auch aus wirtschaftlichen Motiven fortgesetzt

Dass der Ligabetrieb fortgesetzt wird, liegt wohl auch an wirtschaftlichen Aspekten. Ein weiteres Pausieren des Spielbetriebs könnte fatale Folgen haben. Abwandernde Spieler, ausbleibende Einnahmen, mangelnde Entwicklung. „Wenn wir eine Saison oder sogar mehrere verpassen, wird es sehr schwer sein, den Fußball in der Ukraine wiederzubeleben“, heißt es aus Dnipro. „Wir könnten eine Menge verpassen.“

Die Folgen des Krieges spüren die Vereine indes schon jetzt. Aufgrund einer Sonderregel der Uefa konnten ausländische Spieler ihre Verträge aussetzen und mitten in der Saison wechseln. Der Fußballverband argumentierte mit der Sicherheit der Profis, denen die Ausübung ihres Berufs gewährleistet werden müsse. Im regulären Transferfenster hatten die ukrainischen Teams zudem wenige Argumente für den Verbleib in einem vom Krieg gezeichneten Land. Einige Spieler wechselten daher unter ihrem Marktwert. Den ohnehin finanziell angeschlagenen Vereinen gingen so wichtige Transfersummen verloren.

Die Spitzenteams Dynamo Kiew und vor allem Shakhtar Donezk, die einzigen ukrainischen Meister der vergangenen 30 Jahre, sind auf Spielertransfers in europäische Topligen angewiesen. Die kleineren Teams wiederum brauchen jede noch so kleine Ablösesumme.

Das hat auch Folgen für die Spieler, die geblieben sind. „Die Gehälter sind erheblich zurückgegangen“, sagte der Fußballkommentator Wiktor Wazko dem österreichischen Magazin Ballesterer. „Gleichzeitig ist die Nachfrage nach guten ukrainischen Spielern gestiegen, und die Manager mit der größten Weitsicht könnten zu dem Schluss kommen, dass man selbst in Kriegszeiten neue Spieler aufbauen kann, die nach dem Krieg Ablösesummen einbringen.“ Auch in Zeiten des Krieges ist der Fußball von ökonomischen Interessen geprägt – wenngleich es diese Saison in der Ukraine gewiss um mehr als 90 Minuten geht. (as)

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