Russisches Gericht verbietet wichtigste Menschenrechtsgruppe - Memorial will Entscheidung anfechten
Russlands Oberstes Gericht hat die wichtigste Menschenrechtsorganisation des Landes, Memorial, aufgelöst. Der Vorwurf: Die Organisation sei ein „ausländischer Agent“.
Update vom 28. Dezember, 19.30 Uhr: Die Entscheidung über die Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial (siehe Erstmeldung) löste international Entsetzen aus. Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial International kündigte bereits rechtliche Schritte gegen ihr gerichtlich angeordnetes Verbot an.
„Wir werden die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Russlands auf jede erdenkliche Weise anfechten“, erklärte Jan Ratschinski von der Memorial-Leitung am Dienstag. „Und wir werden rechtliche Möglichkeiten finden, um unsere Arbeit fortzusetzen.“ Memorial Anwältin Tatjana Gluschkowa sagte der Nachrichtenagentur AFP, die NGO bereite eine Eingabe vor dem Berufungsgremium des Obersten Gerichts vor.
Internationale Kritik an Entscheidung des russischen Gerichtshofs
Russland wurde für die Auflösung der Organisation von vielen Ländern stark kritisiert. Neben Tschechien und Polen verurteilten auch französische Landesvertreter das Verbot der russischen Bürgerrechtsrechtsorganisation. Das polnische Außenministerium sprach Memorial International seine Unterstützung zu. Die Generalsekretärin des Europarats, Marija Pejcinovic Buric, nannte das Verbot eine „verheerende Nachricht“ für die Zivilgesellschaft. Russland scheine sich „immer weiter von unseren gemeinsamen europäischen Standards und Werten zu entfernen“.
Auch die Bundesregierung kritisierte die gerichtlich angeordnete Auflösung von Memorial International als „mehr als unverständlich“. Die Anordnung des Gerichts „widerspricht internationalen Verpflichtungen zum Schutz grundlegender Bürgerrechte, die auch Russland eingegangen ist“, erklärte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes. „Die Entscheidung bereitet uns nicht zuletzt große Sorge auch deshalb, weil sie den Opfern von Unterdrückung und Repression die Stimme entzieht.“
Vor dem Gericht in Moskau versammelten sich mehr als 100 Unterstützer, wie Bilder von Memorial bei Twitter zeigten. Die Demonstranten bezeichneten das Urteil als „Schande“. Mehrere Demonstranten wurden festgenommen. Am Mittwoch (29. Dezember) soll der Prozess fortgesetzt werden.
Verbot russischer Menschenrechtsgruppe sorgt für Entsetzen
Erstmeldung vom 28. Dezember: Moskau - Das Oberste Gericht Russlands hat die Auflösung der bedeutendsten Menschenrechtsorganisation des Landes*, Memorial International, angeordnet. Wegen angeblicher Verstöße gegen mehrere russische Gesetze - darunter auch das sogenannte Ausländische-Agenten-Gesetz - verhängten die Richter das Verbot am Dienstag (28. Dezember).
Als „ausländischer Agent“ gelten in Russland seit 2012 gesellschaftliche Organisationen und seit 2020 auch Privatpersonen, die politisch tätig sind und finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Das Gesetz steht international als politisches Instrument für willkürliche Entscheidungen gegen Andersdenkende in der Kritik.
Menschenrechtsorganisation Memorial: Verbot sei „politische Entscheidung“
Memorial weist die Vorwürfe zurück und beklagt politische Verfolgung. Jan Ratschinski von der Memorial-Leitung kündigte an, gegen das Urteil vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorzugehen. Memorial teilte über den Messengerdienst Telegram mit, dass mit der Entscheidung auch die regionalen Unterorganisationen von Memorial International verboten wurden.
Das Verbot sei eine „politische Entscheidung“ ohne Rechtsgrundlage. Ziel sei die „Zerstörung einer Organisation, die sich mit der Geschichte politischer Repressionen und mit dem Schutz der Menschenrechte befasst“. Gegen die Auflösung der Menschenrechtsorganisation demonstrierten dutzende Menschen vor dem Moskauer Gerichtsgebäude.
Memorial in Russland: Wichtigste zivilgesellschaftliche Organisation verboten
Memorial ist eine der wichtigsten zivilgesellschaftlichen Organisationen in Russland*. Sie wurde Ende der 80er Jahre vom sowjetischen Dissidenten und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow mitbegründet. Die Organisation setzt sich für die Aufarbeitung der politischen Verfolgung und des stalinistischen Terrors in der Sowjetunion und für die Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte im heutigen Russland ein.

Auch der Unterorganisation Menschenzentrum Memorial wirft der russische Staat Verstöße gegen das Ausländische-Agenten-Gesetz vor. Die Staatsanwaltschaft bezichtigt das Zentrum darüber hinaus der Verherrlichung von „Terrorismus und Extremismus“. Am Mittwoch (29. Dezember) findet vor einem Gericht in Moskau eine weitere Anhörung in diesem Verfahren statt. Das Menschenzentrum Memorial setzt sich besonders für die Rechte politischer Gefangener in Russland ein - 349 stehen auf ihrer Liste. In diesem Jahr wies das Zentrum immer wieder auf das Schicksal des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny hin.
„Extremisten“ und „ausländische Agenten“: Vorgehen gegen Oppositionelle
Viele Oppositionelle, darunter die Anhänger des inhaftierten Kremlgegners Alexej Nawalny, sind in Russland als Extremisten von der Justiz eingestuft. Memorial sieht sich durch das Führen einer Liste zu politischen Gefangenen dem Vorwurf ausgesetzt, „das Mitwirken in terroristischen und extremistischen Organisationen“ zu rechtfertigen.
Der Vertreter der russischen Generalstaatsanwaltschaft, Alexej Dschafjarow, sagte vor Gericht, dass Memorial außerdem mit seiner Arbeit die vor 30 Jahren aufgelöste Sowjetunion als „Terrorstaat“ darstelle und Lügen über das Land verbreite. Der russische Präsident Wladimir Putin* hatte Memorial vorgeworfen, Nazi-Kollaborateure im Zweiten Weltkrieg rehabilitiert zu haben.
Ausland schockiert: Frank-Walter Steinmeier „fassungslos“
Experten sehen in dem Vorgehen gegen Memorial auch den Versuch der russischen Führung, die sowjetische Geschichte umzudeuten. Die russische Regierung erinnert an den einstigen sowjetischen Diktator Josef Stalin vor allem als Kriegshelden und Bezwinger des Nationalsozialismus. Memorial arbeitet hingegen an der Aufarbeitung des stalinistischen Terrors und will Gedenkorte für die Opfer des Stalinismus schaffen. Aufarbeitung, wie Memorial sie betreibt, wird als Angriff auf dieses Geschichtsbild gewertet.
In Deutschland löste das Vorgehen der russischen Justiz Entsetzen aus*. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte das Vorgehen gegen die renommierte Einrichtung zuletzt verurteilt. Das mache „fassungslos“, sagte er. Der Kreml wies die Kritik zurück. Mehrere deutsche Organisationen veröffentlichten am Dienstag eine gemeinsame Erklärung und rügten das Verbot als „schweren Schlag für die russische Gesellschaft“ und ganz Europa.
In der Erklärung, die etwa von der Heinrich-Böll-Stiftung, Amnesty International, dem Deutsche PEN-Zentrum, der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur unterzeichnet wurde, wird Memorial als „moralisches Rückgrat der russischen Zivilgesellschaft“ gewürdigt. Der russische Staat gebe mit der Auflösung „ein erschütterndes Selbstzeugnis ab: Er bekämpft die Auseinandersetzung mit der eigenen Unrechtsgeschichte und möchte individuelle und kollektive Erinnerung monopolisieren.“ Zudem habe das Gerichtsverfahren die „ganze Absurdität des Gesetzes über „ausländische Agenten“ offengelegt“. Die Stiftung Topographie des Terrors und weitere deutsche Erinnerungsorte und Gedenkstätten hatten sich zuletzt in einer Resolution solidarisch mit Memorial gezeigt. Die Institution sei wichtig für die deutsch-russischen Beziehungen.
Bekannter Stalinismus- Forscher und Aktivist zu weiteren zwei Jahren Haft verurteilt
Erst am Montag (27. Dezember) hatte ein Gericht die Haftstrafe für den russischen Stalinismus-Forscher und Aktivisten der Menschenrechtsorganisation Memorial, Juri Dmitrijew, um zwei Jahre verlängert*. Ein Gericht in der Stadt Petrosawodsk gab einem Antrag der Staatsanwaltschaft statt: Dmitrijews Gefängnisstrafe wegen angeblichen sexuellen Missbrauchs wurde damit von 13 auf 15 Jahre ausgedehnt, wie Memorial am Montag (27. Dezember) mitteilte. Die Organisation stuft den Historiker als politischen Gefangenen ein.
Der Historiker hat mit seiner Forschungsarbeit die Aufmerksamkeit auf eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte des Landes gelenkt. Über Jahre widmete er sich der Aufarbeitung der Repressionen in der Sowjetzeit. Seine Untersuchungen führten auch zur Entdeckung eines Massengrabes mit den Überresten von etwa 9000 Menschen, die zur Zeit der UdSSR erschossen worden waren.
Die Verurteilung Dmitrijews hatte im vergangenen Jahr auch zu Spannungen zwischen Russland und Deutschland sowie Frankreich geführt. Die Regierungen in Berlin und Paris kritisierten damals die Haftstrafe. Ihre Botschafter wurden daraufhin vom russischen Außenministerium einbestellt. Das Ministerium kritisierte einen „Akt der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Russischen Föderation“. (dpa/AFP/at) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.