Denkwürdiger TV-Moment? Lanz lässt sich Grünen-Aussage auf der Zunge zergehen - „In. ein. Kriegsgebiet.“

Der Ukraine-Krieg wirft Fragen um Putins Motive auf. Doch Markus Lanz wundert sich vor allem über die deutsche Dimension der Debatte.
Hamburg – Bei „Markus Lanz“* gibt am Donnerstagabend Tag acht des Ukraine-Kriegs* die Themen vor. Grünen-Co-Chef Omid Nouripour verurteilt wie Parteifreundin Annalena Baerbock die „schon jetzt“ dokumentierten Kriegsverbrechen der russischen Armee, etwa den Angriff auf ein Krankenhaus in Charkiw oder den Einsatz von Vakuumbomben. Es sei davon auszugehen, dass die „Rücksichtslosigkeit ins Unermessliche geht“, wenn es zu Häuserkämpfen in Kiew komme.
Rüdiger von Fritsch, von 2014 bis 2019 Deutschlands Botschafter in Moskau, mutmaßt, Russlands Präsident Wladimir Putin habe den Verstand verloren und herrsche aus einer Position der Angst. Alte Sowjet-Reflexe würden in der russischen Bevölkerung angesprochen: Angst vor einem äußeren Feind erzeuge innere Einigkeit. Niemand kontrolliere Putin mehr, man müsse sich fragen, ob er sich überhaupt noch beraten lasse. „Das macht die Sache so gefährlich“, sagt von Fritsch.
Irina Scherbakowa bei „Markus Lanz“: „Ein Sieg des reinen Bösen kann sich nicht lange halten“
Die aus Moskau zugeschaltete Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa beschreibt im Anschluss die Situation in Russland*. Sie kenne viele Menschen, die versuchen, das Land zu verlassen . was immer schwieriger werde. Inzwischen würden in Russland selbst Menschen festgenommen, die blau-gelbe Bändchen an der Kleidung tragen. Den Zustimmungswerten zum Krieg in russischen Umfragen traue sie angesichts der vielen Repressalien nicht. „Ein Sieg des reinen Bösen kann sich nicht lange halten“, hofft Scherbakowa, „sonst geht das Land absolut zu Grunde. Der Preis wird unglaublich hoch sein.“
Nouripour verneigt sich nach der Videoschalte mit Scherbakowa verbal vor der Mitgründerin der nun verbotenen Menschenrechtsorganisation Memorial. Allein ihr Auftritt bei „Markus Lanz“ bringe die Bürgerrechtlerin in Gefahr, sie zeige, dass sie sich von Putins Angstsystem nicht einschüchtern lassen wolle. „Das korrespondiert so stark mit dem, was die Leute in der Ukraine machen“, sagt Nouripour und berichtet vom Mut und der Zuversicht eines befreundeten Ukrainers, der mit seiner Familie in einem U-Bahn-Schacht schlafe. An vielen Einzelschicksalen lasse sich die Furchtlosigkeit der Ukrainer ablesen. Nouripour findet deshalb, „dass die Grenzen dessen, was Putin erreichen kann, einfach längst erreicht sind.“
Ukraine-Krieg – Ex-Botschafter bei „Markus Lanz“: „Jemand muss Putin in den Arm fallen“
Von Fritsch vermutet, es müsse ein kritischer Punkt in der russischen Gesellschaft erreicht werden, bevor die Mehrheit aufhöre, „sich wegzuducken“. Womöglich beschleunige Putin sogar das Erreichen dieses Punktes, weil er fundamental gegen die Interessen seines eigenen Landes agiere. Wirtschaftlich und auf weltpolitischer Bühne isoliert, stärke Putin derzeit die Nato sowie das Nationalbewusstsein der Ukraine. Der ehemalige Botschafter hofft, dass Putin „jemand in den Arm fällt“, etwa Rosneft-Chef Igor Setschin, dem Putin einst Deutschlands Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) als Vertrauten in den Aufsichtsrat setzte.
„Markus Lanz“ - das waren seine Gäste am 3. März:
- Irina Scherbakowa – Bürgerrechtlerin
- Omid Nouripour (Grüne) – Politiker
- Helene Bubrowski – FAZ-Journalistin
- Rüdiger von Fritsch – Ex-Diplomat
- Luisa Neubauer – Klimaaktivistin
Klimaaktivistin Luisa Neubauer hatte vor Beginn des Krieges geplant, zu Klimakundgebungen in die Ukraine zu reisen. Noch vor wenigen Wochen, berichtet sie, hätten sie „ganz normal“ Zoom-Konferenzen abgehalten und globale Klimastreiks geplant. „Jetzt sind wir in den gleichen Konferenzen und die Menschen sprechen aus Schutzräumen zu uns. Die russischen Aktivisten können gar nicht mehr da sein. Es ist eine surreale Situation“, versucht sie das Geschehen zu beschreiben.
Talkmaster Markus Lanz spricht Neubauer als Vertreterin ihrer Generation an und fragt aus Sicht der Älteren: „Sind wir die Versager, die es mal wieder nicht hingekriegt haben?“ Neubauer vermeidet eine generelle Anklage, erinnert aber daran, dass das Prinzip „fossile Energien zerstören Lebensgrundlagen“ auch hier greife. Der Krieg in der Ukraine werde mit Geld aus dem Westen finanziert, klagt sie an: „Die EU und die USA zahlen normalerweise täglich etwa 700 Millionen Dollar an Putin für Kohle, Öl und Gas.“
Grünen-Chef Omid Nouripour bei „Markus Lanz“: „Wir machen jetzt Dinge, die wir nie wollten“
„Wo ist das Geld hin?“, fragt Nouripour und rätselt in Anbetracht von Berichten aus der Ukraine, die eine schlecht ausgerüstete russische Armee zeigen, ob damit eine „fossile Mafia“ statt des Militärs finanziert worden sei, die jetzt das System Putin stütze. Von Fritsch wirft ein, man dürfe das russische Militär nicht unterschätzen. „Wenn dieser Präsident diesen Krieg gewinnen will, wird ihm das gelingen“, befürchtet der ehemalige Diplomat.
Als Nouripour wenig später die Waffen aufzählt, die Deutschland nun in die Ukraine liefere, stellt Lanz eine Zeitenwende fest: „Da sitzt der Chef der Grünen* und erzählt dir eine ganze Liste und sagt dir, was wir jetzt alles an Waffen in ein Kriegsgebiet liefern“, hält der Moderator den Moment fest und betont mit dramatischer Stimme besonders das Ende des Satzes: „Waffen. In. Ein. Kriegsgebiet.“
Doch Nouripour bleibt gelassen. Die Grünen hätten sich bereits vor 26 Jahren zur Nato bekannt und wiederholt für militärische Einsätze gestimmt. Er findet: „Wir machen jetzt Dinge, die wir nie wollten. Weil Dinge passieren, die wir nie wollten. Es fällt niemandem leicht.“
Luisa Neubauer bei „Markus Lanz“: „Wie können wir uns unabhängig von Russland machen?“
„Es hat einen Krieg gebraucht, um zu verstehen, dass Energie natürlich Sicherheitspolitik ist“, stellt die Journalistin Helene Bubrowski fest und attestiert dem politischen Berlin „Bewegung“. Neubauer empört das, es sei nicht damit getan, dass Politiker Schlagworte in den Raum werfen, es fehle an einer konsequenten Strategie für Deutschlands Unabhängigkeit von fossilen Brennstoffen*. Von Fritsch gibt zu bedenken, dass Putin bislang Energie nicht als Waffe benutze, dass dieser Zustand aber eintreten könne. Dann gelte nicht mehr nur „lieber kalte Heizung als heißer Krieg“, sondern es gehe um Arbeitsplätze.
Neubauer hält das für eine „Geisterdebatte“ und ruft zu schnellem Handeln und einer informierten Debatte auf. Frieren sei in Deutschland kein Thema, wenn von Fritsch das behaupte, mache er Menschen damit unnötig Angst. Der ehemalige Botschafter fragt Neubauer, was sie machen würde, wenn Putin morgen sämtliche Rohstofflieferungen stoppe. Neubauer antwortet mit einem weiteren Appell an die Bundesregierung: „Ja, das ist ein Riesenproblem. Vor dieser Frage steht jetzt die Bundesregierung. Gleichzeitig müssen wir uns fragen: Was kann von unserer Seite passieren, dass wir davon nicht mehr so abhängig sind?“
„Markus Lanz“ - Das Fazit der Sendung
„Markus Lanz“ ist am Donnerstagabend von großem Durcheinander geprägt. Die Videoschalte mit der Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa in Moskau klappt nur mit großer Verzögerung, dann wirft Grünen-Chef Omid Nouripour seine Argumente mehrfach in Momenten ein, in denen der Talk bereits eine andere Wendung genommen hat.
Als Deutschlands ehemaliger Botschafter in Moskau, Rüdiger von Fritsch, meint, dass kalte Heizungen „auch der Rentnerin in Wanne-Eickel“ erklärt werden müssten, bläst Klimaaktivistin Luisa Neubauer die Backen auf. Dass Talkmaster Markus Lanz diese Szene gerne in Zeitlupe sehen würde, kann sie mit Selbstironie nehmen, fordert aber eine „echte Debatte“ und fände es besser, die fiktive Rentnerin „wenigstens einmal im Keller zu lassen“. (Hermann Racke) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.