Eine so weitreichende Einigung der Staaten und der Sozialpartner sei beispiellos, sagte der portugiesische Ministerpräsident Antonio Costa*. Er sprach von einem „historischen Moment“. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte, bei der Erholung von der Corona-Krise* und dem digitalen und grünen Wandel der Wirtschaft gehe es nun um die Schaffung von guten, zukunftsfesten Jobs und um die nötigen Qualifikationen.
Die 750 Milliarden schweren EU-Aufbauhilfen würden dies unterstützen, betonte von der Leyen. Das Programm sei „größer als der Marshall-Plan“, doch müsse es nun rasch umgesetzt werden. Von der Leyen appellierte an alle EU-Staaten, den nötigen Haushaltsbeschluss noch im Mai zu ratifizieren. Dann könne die Kommission im Juni beginnen, die nötigen Darlehen an den Finanzmärkten aufzunehmen.
Ganz streitlos lief das Treffen nicht ab. Denn Polen und Ungarn haben in der geplanten Erklärung des EU-Sozialgipfels in Porto das Wort „Geschlechtergleichheit“ verhindert. Warschau und Budapest hätten sich gegen den Begriff gestemmt, weil dieser „Raum für LGBT-Rechte schafft“ und sähen „das Gefüge ihrer christlichen Gesellschaften“ in Gefahr, sagte ein EU-Diplomat am Freitag. Ungarns Regierungschef Viktor Orban* kritisierte EU-Regierungen, die auf anderes als die Gleichstellung von Männern und Frauen verweisen wollten.
Der Streit, der nur einen von 13 Punkten in der Erklärung des Sozialgipfels betraf, hatte die EU-Botschafter über Tage beschäftigt. In einem ursprünglichen Entwurf von Anfang der Woche hatte es geheißen, die EU wolle „die Lücke bei Beschäftigung, Bezahlung und Renten zwischen Männern und Frauen schließen und Geschlechtergleichheit sowie Fairness für jeden Einzelnen in unserer Gesellschaft fördern“. In der abschließenden Version, die am Samstag beschlossen werden soll, heißt es nun, Europa wolle „die Geschlechterlücke bei Beschäftigung, Bezahlung und Renten schließen und Fairness für jeden Einzelnen in unserer Gesellschaft fördern“. Zudem wird auf das Grundprinzip Nummer zwei der 2017 verabschiedeten europäischen Säule für soziale Rechte verwiesen. Dort werden nur „Frauen und Männer“ genannt. Damit wurde ein möglicher Verweis auf die LGBT-Gemeinschaft verhindert. Das englische Kürzel LGBT steht für lesbisch, schwul, bisexuell und transgender.
Orban verteidigte die Blockadehaltung. Es gehe um einen „ideologisch motivierten Ausdruck, dessen Bedeutung nicht klar ist“, sagte er bei seiner Ankunft bei dem Gipfel in Porto. Wenn der Begriff Geschlechtergleichheit verwendet werde, müsse dieser auf Männer und Frauen verweisen. Aber dies werde von anderen EU-Staaten immer zurückgewiesen, sagte der Ungar. „Sie mögen die christliche Herangehensweise nicht.“ Warschau poche darauf, sich an die Bestimmungen des EU-Vertrages zu halten, sagte ein polnischer Vertreter der Nachrichtenagentur AFP zu dem Streit. „Der EU-Vertrag bezieht sich ganz klar nicht auf die Gleichstellung der Geschlechter, sondern auf die Gleichstellung von Frauen und Männern.“
Das EU-Treffen dauert bis Samstag. Am Rande sollte es in Porto auch um die Corona-Pandemie gehen und dabei unter anderem um die Frage, ob Impfstoffpatente freigegeben werden sollten, um die weltweite Versorgung voranzubringen. Die EU-Staaten sind da uneins.
Außerdem wollten die Staats- und Regierungschefs über außenpolitische Fragen sprechen, darunter die Beziehungen zu Russland. Für Samstag ist auch eine Videokonferenz mit dem indischen Premier Narendra Modi vorgesehen. Außerdem wird Kanzlerin Merkel am Samstag um 16 Uhr eine Pressekonferenz abhalten. Sie reiste wegen der Pandemielage in Deutschland nicht an und schaltet sich nur zeitweise per Video zu. Die SPD-Europapolitikerin Katarina Barley kritisierte dies und forderte von den EU-Staaten mehr Einsatz für sozialen Zusammenhalt. Die Linken-Europapolitikerin Özlem Demirel monierte: „Sozialpolitik spielt in der EU nur eine untergeordnete Rolle, und das muss sich ändern.“
Viele EU-Staaten wollen sich in der Sozialpolitik von Brüssel wenig reinreden lassen. Konkrete sozialpolitische EU-Pläne wie Vorgaben zur Einführung örtlicher Mindestlöhne in allen 27 Staaten sind sehr umstritten und kommen kaum voran. (dpa/AFP/cibo) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA