Sie fordern in Ihrer Studie einerseits von der Politik „Wahrhaftigkeit“, bei Bedarf auch ein Eingeständnis des Scheiterns. Andererseits aber auch mehr „Programm“. Eingeständnisse waren auch in der Corona-Krise immer wieder einmal zu hören. Aber bis zu einer programmatisch fundierten Politik ist es noch ein gutes Stück, oder?
Wir haben einen massiven Verlust programmatischer Substanz in den vergangenen Jahrzehnten erlebt, das muss man so sagen. Da mögen manche sagen: „Gott sei Dank, diese hochfliegenden Pläne, die sind selten realisiert worden“. Aber dieser Zustand birgt auch ein großes Risiko. Angela Merkel war in ihrem Amt als Bundeskanzlerin das Extrembeispiel für dieses pragmatische Durchwursteln: Konflikte nicht auf die Spitze treiben, am besten in einer Großen Koalition regieren, auf Stimmungslagen reagieren, geschickt vorwegnehmen, was drohen könnte – aber keine langfristigen Projekte verfolgen. Und das hatte durchaus seinen Reiz, die Bevölkerung hat schließlich jahrelang positiv reagiert. Aber zur gleichen Zeit haben wir eben einen massiven Substanzverlust erlebt, unter dem jetzt gerade die Union massiv leidet. Das tut auch der Politik generell nicht gut.
Wir haben einen massiven Verlust programmatischer Substanz in den vergangenen Jahrzehnten erlebt. Angela Merkel war in ihrem Amt als Bundeskanzlerin das Extrembeispiel für dieses pragmatische Durchwursteln.
Woran lässt sich dieses „Nicht gut tun“ festmachen?
Schauen Sie nach Frankreich, da gibt es die Präsidentschaftswahlen – und auf einmal drückt das Thema Migration alle anderen Themen an die Wand. Unter anderem, weil wir keine programmatisch fundierte europäische Antwort auf die Migrationsthematik entwickelt haben. Ohne dass man da ins Utopische oder Visionäre abgleiten darf: Ich bin schon der Meinung, dass Politik langfristige Ziele braucht. Ziel, die wohlüberlegt sind und die man auch öffentlich zur Diskussion stellt. Man kann nicht immer nur reaktiv agieren.
Liest man ihre Studie, dann scheint Ihnen das Thema Internet auch für die Zukunft der Demokratie ganz entscheidend zu sein. Nicht nur in Sachen Austausch mit der Politik. Warum?
Mir wird extrem unbehaglich, wenn in Anbetracht der zum Teil üblen Entwicklungen in den sogenannten sozialen Medien alle Hoffnung auf die Weisheit und das Ethos der Firmenleitungen gesetzt werden, etwa bei Facebook oder Telegram. Wo etwas strafrechtlich relevant ist, muss man einschreiten können, sicher. Aber ganz allgemein können wir doch nicht privaten Großkonzernen überlassen, die Kommunikation zu strukturieren. Zu entscheiden: Wer wird „gecancelt“ und wer nicht.
Mir war sehr ungemütlich zumute bei der Entscheidung, Donald Trump unmittelbar nach der Wahl seine Twitter- und Facebook-Kanäle zu canceln. (...) Stellen wir uns das so vor, dass in Zukunft große Konzerne entscheiden, wer noch zu Wort kommt? Das ist eine gruselige Vorstellung.
Mir war sogar ungemütlich zumute bei der Entscheidung, dem gerade abgewählten, erratischen und wirklich die US-Demokratie gefährdenden Donald Trump unmittelbar nach der Wahl seine Twitter und Facebook-Kanäle zu canceln. Natürlich, das betrifft einen, bei dem man sich wünscht, dass er nicht mehr diese Lautsprechermöglichkeit in den sozialen Medien hat. Aber auf der anderen Seite: nach welchen Kriterien? Stellen wir uns das so vor, dass in Zukunft große Konzerne entscheiden, wer noch zu Wort kommt? Das ist eine gruselige Vorstellung.
Sie fordern in diesem Kontext eine „digitale Infrastruktur der Internetkommunikation in öffentlicher Verantwortung“. Wie muss man sich das vorstellen? Eine Art staatliches Facebook? Oder gar ein verstaatlichtes Facebook, wie es zuletzt der Satiriker Jan Böhmermann gefordert hat*?
Es geht mir explizit nicht um ein öffentlich-rechtliches Angebot - sondern um die Frage, wie Europa eine Infrastruktur der digitalen Kommunikation schaffen sollte. Man könnte zum Beispiel eine Stiftung gründen, die der Kommerzialisierung des Internets eine Alternative entgegensetzt.
Für einige Beobachter könnte auch das nach einer „gruseligen Vorstellung“ klingen.
Diese öffentliche Infrastruktur muss natürlich ein breites Spektrum von Meinungsvielfalt zulassen! Auch in Facebook-Gruppen etwa passiert sehr viel Positives, teils wird da auf hohem Niveau diskutiert. Zugleich ist es bei Facebook so, dass man versucht, die Nutzer möglichst lange auf der Plattform zu halten, über Algorithmen, die Newsfeeds so steuern, dass sich User-Präferenzen verstärken. Das ist eine völlig normale ökonomische Logik, daran ist zunächst nichts auszusetzen – von datenschutztechnischen Fragen einmal abgesehen. Das große Aber: Wenn das in die politische Sphäre hineingeht, dann entsteht durch diese Algorithmen eine Verstärkung, eine Absonderung gegenüber dem, was der Nutzer bisher nicht als Präferenz hatte. Das führt zu Radikalisierung und Parzellierung. Und bei Menschen, die andere Medien allenfalls noch am Rande wahrnehmen, womöglich zum Ausblenden eines Teils der Realität.
Lassen Sie uns noch einmal ganz konkret werden und in die Zukunft blicken. In einem optimistischen Szenario: Wie könnte Deutschland in einiger Zeit gut aus den Wirren der Pandemie-Zeit gekommen sein?
Wir haben in dieser Krise auch gelernt, wie wichtig Solidarität ist. Und wir haben Probleme erkannt, die zuvor überhaupt nicht auf dem Schirm waren. Denken Sie an die Corona-Ausbrüche bei Tönnies. Da wurde die Bevölkerung erstmal aufmerksam auf die Zustände in dieser Branche. Denken Sie an die vielen Alleinerziehenden, die in der Krise alleingelassen waren, an Soloselbstständige oder jetzt die Situation von Pflegekräften. Oder an das Bildungssystem, das sich so schwergetan hat, angemessen auf die Krise zu reagieren. Das zeigt ja, dass wir hinter dem Mond sind, was digitale Bildung angeht. All das könnte wie ein Weckruf wirken. Ich hoffe, das versandet jetzt nicht im Krisenbewältigungs-Kleinklein, aber es gab aus der neuen Ampel-Koalition* ein Aufbruchssignal, das ja jetzt schon kühn ist, weil es Politikprogramme miteinander verbindet, die als unvereinbar galten. Wenn das funktionieren sollte – und Deutschland ist als nach wie vor ökonomisch und sozial sehr starkes Land ebenso wie Europa gut aufgestellt - dann könnte aus diesen Krisenerfahrungen eine neue Form von Gemeinwohlorientierung werden.
„Gemeinwohlorientierung“ ist ein großes und etwas allgemeines Wort. Was bedeutet das für Sie konkret?
Gemeinwohlorientierung heißt: Wir adressieren die gemeinsamen Interessen, nicht Partikularinteressen. Politik ist kein Verhandlungsspiel, sondern ist begründungspflichtig. Es gilt, die Öffentlichkeit zu adressieren und zu sagen: „Das sind unsere Konzepte, mit denen wir auf bestimmte Herausforderungen reagieren wollen - und wir wollen, dass in diesen Dialog alle ihre Kompetenzen einbringen können“. Das könnte jetzt passieren. Ich habe ja vorhin den Vergleich zu 1969 gezogen. Die Jugendbewegung war damals für viele in der Gesellschaft ein Schock. Weil auf einmal alles, was vertraut war, infrage gestellt wurde. Aber das hat zu einem großen Aufbruch geführt. Zu einer Bildungsexpansion, wie sie Deutschland nie erlebt hatte. Jetzt ist die Situation ganz anders, aber in einer Hinsicht besteht eine Parallele: Es gibt eine unruhige, politisierte, auch ungeduldige jüngere Generation. Und es gibt die Erkenntnis, dass es auf keinen Fall einfach so in diesem Trott weitergehen kann.
Interview: Florian Naumann / *Merkur.de und fr.de sind Angebote von IPPEN.MEDIA.
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