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Ahrtal-Psychologin: „Das Geräusch und der Geruch von Regen, dazu der steigende Fluss – das ist ein Trigger“

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Von: Max Müller

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Die Jahrhundertflut jährt sich. Wie geht es den Menschen aus dem Ahrtal heute? Wir haben eine Psychologin aus dem Hochwasser-Gebiet zum Interview getroffen.

Rheinbach – Der Juli 2021 verändert eine ganze Region im Westen Deutschlands. Dörfer in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz fallen den Wassermassen zum Opfer. 184 Menschen sterben. Elisabeth Mick hat Glück. In ihrem Haus läuft lediglich die Toilette über. Dennoch ändert sich ihr Leben radikal. Denn Mick ist Psychologin und Traumatherapeutin. Aus erster Hand bekommt sie mit, wie die Katastrophe einen ganzen Landstrich von heute auf morgen verändert.

Ein paar steht im Hochwassergebiet auf einer Straße und sieht die Verwüstung
„Vieles ist unwiederbringlich kaputt – das müssen Menschen lernen zu akzeptieren“, sagt Psychologin Elisabeth Mick FR.de von IPPEN.MEDIA. © Christof Stache/afp

Im Gespräch mit Fr.de von IPPEN.MEDIA spricht Mick über die dramatischen Stunden des 14. Juli, die Langzeitfolgen und die Frage, wie sich die psychologische Arbeit in der Region verändert.

Frau Mick, wie haben Sie die Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 erlebt?

Meine Partnerin und ich wollten aus unserem Nordsee-Urlaub zurückfahren. Eigentlich wären wir am frühen Abend zu Hause gewesen. Unterwegs haben uns Freunde angerufen. Sie sagten: Ihr kommt hier nicht mehr durch, die Straßen sind geflutet. In Hagen sind wir dann in eine Vollsperrung geraten. Dann schickte uns eine Freundin ein Video, wie ihr Kühlschrank aus der Wohnung schwamm. Das war so unwirklich!

Wann waren Sie zu Hause?

Morgens um 6 Uhr. Über Feldwege und Nebenstraßen haben wir uns durchgeschlagen. Wenn eine Straße überschwemmt war, bin ich vorgelaufen. Ging mir das Wasser nur bis zu den Knien, sind wir durchgefahren. Bei uns im Haus war alles okay. Um 9 Uhr sind wir dann zum ersten Mal ins Tal.

Was für eine Situation haben Sie dort vorgefunden?

Ich dachte nur: „Oh Gott, oh Gott, ist das schlimm.“ Wir haben erstmal für Betroffene Kaffee gekocht und Brötchen geschmiert und dann unsere Hilfe organisiert.

Von Beruf sind Sie Traumatherapeutin. Wie konnten Sie in dieser Funktion helfen?

In erster Linie durch Zuhören. Wer sein Haus oder sogar einen Menschen verloren hatte, war zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt nicht in der Realität angekommen. Der Körper ist im Schockzustand. Das Zeitgefühl versagt, man hat weder ein Hungergefühl noch ein Schlafbedürfnis, viele müssen nicht mehr zur Toilette. Man funktioniert. 

Das klingt nicht gerade so, als ob man dann von außen helfen kann.

Doch, es gibt auch in der akuten Phase hilfreiche traumatherapeutische Techniken. Nehmen wir zum Beispiel Menschen, die dissoziieren. Das bedeutet, sie kapseln sich aus dem Hier und Jetzt ab, sind kaum noch anwesend. Die Seele schützt sich so vor überflutenden Gefühlen. Dann können spezielle Körper- und Stabilisierungsübungen helfen.

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Ahrtal-Flut: „Ein Mann putzte die Fenster in einem Haus, das vielleicht abgerissen wird“

Was ist das Wichtigste in dem unmittelbaren Zeitraum danach?

Menschen müssen emotional verstehen: Es ist vorbei. Ich bin hier in Sicherheit, ich sitze im Trockenen und es wird mir nichts mehr passieren. Deswegen sind die ersten Stunden so wichtig. Insofern ist es dramatisch, dass sich der psychosoziale Notdienst erst am fünften Tag formiert hatte. Es gab zwar einige Notruf-Seelsorgenummern, wenn das Telefonnetz zusammengebrochen ist, bringt das aber nichts.

Wie geht es aus psychologischer Sicht nach dem ersten Schock weiter?

Betroffenen muss man erklären, dass sie als gesunder Mensch da leider in eine traumatische Situation geraten sind. Es braucht Zeit, das zu verarbeiten. In der nächsten Phase geht es meist darum, die Ohnmacht und die Hilflosigkeit zu überwinden, zum Beispiel, indem man aktiv wird. Anträge bei der Versicherung stellen oder den Schlamm aus der Wohnung schaufeln. Ich habe am dritten Tag einen Mann gesehen, der seine Fenster putzte – in einem Haus, das vielleicht abgerissen wird. Das sind in erster Linie Versuche, die eigene Hilflosigkeit zu überwinden. Übrigens gilt das auch für die überwältigende Hilfe von außerhalb.

Hauptsache, man tut irgendwas?

Genau. Umso bitterer ist es jetzt für viele Menschen zu merken: Die Versicherung zahlt nicht, ich bekomme keine Handwerker oder ich muss auf das Gutachten warten. Es würde vielen Menschen helfen, die Ohnmacht zu überwinden, wenn hier manche Prozesse schneller und unbürokratischer ablaufen würden.

Geschichte hinter der Geschichte

Mit einer Psychologin ein journalistisches Gespräch führen, das ist natürlich so eine Sache. Immerhin sitzt man in einem bequemen Sessel, der in einem lichtdurchfluteten Raum in der dritten Etage eines denkmalgeschützten Backstein-Gebäudes steht. Man fühlt sich fast zu wohl. Die bereitgestellten Tempotücher bleiben dann aber unberührt. Zumindest im Interview. Denn als das Gespräch vorbei ist, wartet vor der Tür bereits die erste Patientin des Tages, sieben weitere werden an diesem Tag noch folgen.

Elisabeth Mick: „Aus psychologischer Sicht hilft es höchstens kurzfristig, einen Schuldigen zu benennen“

Wie lange müssen diese Menschen psychologisch betreut werden?

Längst nicht jeder braucht längerfristig eine Therapie. Dazu muss eine Diagnose vorliegen, Symptome mit Krankheitswert. In der Regel sind das derzeit Angststörungen, Depressionen oder posttraumatische Belastungsstörungen. Typisch sind zum Beispiel wiederkehrende Alpträume, in denen sich das Erlebte immer wieder mit denselben Gefühlen abspielt. Oder man kann sich nicht mehr entspannen. Der Körper ist immer angespannt.

Sie sind 2018 in die Region gezogen. Sie kennen die Zeit davor und danach. Was sind die Hauptunterschiede?

Die Menschen sind enger zusammengerückt. Unser Dorf ist wie eine Gemeinschaft geworden. Die Verbundenheit mit anderen Menschen ist auch enorm wichtig für die gesunde Verarbeitung. Dennoch ist die Situation im Ahrtal ein Jahr danach weit von der vorherigen Normalität entfernt. Vieles ist eben unwiederbringlich kaputt. Das müssen Menschen auch lernen, zu akzeptieren.

Der Katastrophenschutz hat versagt, das haben viele Aussagen vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Mainz bestätigt. Inwiefern hilft diese Aufarbeitung? 

Dieses Thema wird auch unter Psychologen kontrovers diskutiert. Wir Menschen sind leider so gestrickt, dass wir nach Schuldigen suchen. Das ist übrigens auch ein Versuch, Hilflosigkeit zu überwinden. Unter dem Strich war es allerdings eine Naturkatastrophe. Es gab Schlampereien und Fehler, aber es hat niemand mit böser Absicht gehandelt. Die abschließende Bewertung ist eine Sache der Juristen. Aus psychologischer Sicht hilft es höchstens kurzfristig, einen Schuldigen zu benennen.

Die Psychologin Elisabeth Mick sitzt in einem Sessel in ihrer psychologischen Praxis in Rheinbach
Elisabeth Mick hat eine psychologische Praxis in Rheinbach, in unmittelbarer Nähe zum Ahrtal. © Elisabeth Mick

Aufarbeitung der Ahrtalflut: „Männer vom Lande greifen eher zum Alkohol“

Auf Ihrer Homepage steht, dass es keine freien Termine mehr gibt. Wie ist es denn um das psychologische Angebot bestellt?

Im Ahrtal gibt es zwischen Remagen und Kalenborn acht neue Sonderzulassungen. Deswegen wurde die psychologische Soforthilfe auch langsam zurückgefahren. Jetzt greift die Regelversorgung.

Reicht das? Es heißt doch immer, dass überall Therapieplätze fehlen.

Das war vor der Flut und auch vor Corona so. Auch auf dem Land, weil es hier viel weniger Zulassungen gibt. Also wird es vermutlich noch nicht reichen und Betroffene müssen auf einen Therapieplatz länger warten.

Liegt es nicht eher daran, dass der „Seelenklempner“ nicht besonders gut beleumundet ist – gerade auf dem Land?

Das spielt sicherlich auch eine Rolle. Es holen sich häufiger Frauen in städtischen Regionen psychologische Hilfe. Männer vom Lande greifen eher zum Alkohol – das Klischee stimmt bisweilen. Alle, die wegen der Flut zu mir gekommen sind, haben allerdings eine Gemeinsamkeit: Früher oder später geht es in der Behandlung um andere Themen, die gar nichts mit der Flut zu tun haben. Ob Trennungen, schwierige Kindheit und andere Themen – viele Menschen schleppen Probleme mit sich herum, über die sie noch nicht ausreichend gesprochen haben.

Nimmt die Angst jetzt wieder zu, da in Folge des Klimawandels die Wetterlagen wieder extremer werden und der Jahrestag bevorsteht?

Der Jahrestag ist für sehr viele Menschen ein ganz besonderer, schwerer Tag. Ein Tag der Erinnerung oder eine Bilanzierung der bisherigen Entwicklung. Ja, und Regen ist für die meisten Menschen ein Trigger. Das Geräusch und der Geruch, dazu eine steigende Ahr – auch das holt ganz schlimme Erinnerungen wieder hervor.

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