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Nachhaltige Ideen vor Frankreichs Atlantikküste: Die kreativen Seiten der Île d’Oléron

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Von: Sandra Kathe

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Der Trend geht zum Sammeln: Rund 2 Millionen Menschen gehen in Frankreich inzwischen regelmäßig zum Gezeitenfischen.
Der Trend geht zum Sammeln: Rund 2 Millionen Menschen gehen in Frankreich inzwischen regelmäßig zum Gezeitenfischen. © Sandra Kathe

Auf der Île d’Oléron, nach Korsika die zweitgrößte Insel vor Frankreich, trifft Nachhaltigkeit auf Pragmatismus – und Traditionen auf die Folgen des Klimawandels.

Saint-Pierre-d’Oléron - An schönen Tagen, da ist es die Ebbe, die Tausende Menschen zum Strand von Chaucre im Norden der Île d’Oléron lockt. 7000 sind es in Spitzenzeiten, die die steinigen Küsten der Atlantikinsel erstürmen, um einer Tradition nachzugehen, die in Frankreich über alle Altersklassen mehr und mehr im Kommen ist – das Gezeitenfischen. 

Gummistiefel an den Füßen, Eimer in der Hand geht es dann in Scharen raus Richtung Meer und auf die Suche nach Austern, Muscheln, Krebsen und anderen essbaren Meerestieren. Und Menschen wie Jean-Baptiste Bonnin gehen auch an Tagen wie diesem raus – wenn das Wetter alles andere als schön ist… 

Der Biologe Jean-Baptiste Bonnin ist auf der Insel geboren - heute zeigt er Besuchern einen Weg, sie zu schützen.
Der Biologe Jean-Baptiste Bonnin ist auf der Insel geboren – heute zeigt er Besuchern einen Weg, sie zu schützen. © Sandra Kathe

Gezeitenfischen an der französischen Atlantikküste: Verein für mehr Nachhaltigkeit

Der 56-Jährige ist auf der Insel geboren. Dass er aus Leidenschaft geblieben ist, sieht man ihm an, wenn er Gäste über Strand und Felsen ins Meer führt, in Turnschuhen statt Gummistiefeln, und unterwegs immer wieder große Steine umdreht, unter denen er die Meeresbewohner vermutet, die das Meer hier zurückgelassen hat. Als Mitarbeiter der Naturschutzorganisation IODDE (Île d’Oléron Nachhaltigkeit und Naturschutz) kennt er die besten Fundorte. Die Regeln, die hier fürs Gezeitenfischen gelten, hat er mit aufgestellt. 

„Unsere Mission ist es, die Menschen in die Natur zu holen, da wären Verbote fehl am Platz”, sagt der Biologe Bonnin und erklärt die Schablone, die er und sein Team regelmäßig am Strand verteilen, um das Bewusstsein der Einheimischen und Gäste für mehr Nachhaltigkeit beim Gezeitenfischen zu schärfen. Vier Zentimeter Durchmesser gelten als Mindestgröße für Miesmuscheln, fünf für die Länge von Riesengarnelen oder Austern, die, wer das richtige Werkzeug mitgebracht hat, sogar direkt am Strand schlürfen kann. Meeresfrüchte, die kleiner sind, können so weiterwachsen und für den Fortbestand der Art sorgen.

Die Schablone des Umweltvereins IODDE zeigt, ab welcher Größe Meeresfrüchte gesammelt werden dürfen.
Die Schablone des Umweltvereins IODDE zeigt, ab welcher Größe Meeresfrüchte gesammelt werden dürfen. Alles was kleiner ist, muss aus Gründen der Nachhaltigkeit zurück ins Meer. © Sandra Kathe

Pragmatische Ideen an Frankreichs Atlantikküste: Île d’Oléron vermittelt Nachhaltigkeit

Der 2004 gegründete Verein ist nur eins der Beispiele dafür, wie Nachhaltigkeitsthemen nach und nach die zweitgrößte französische Insel in Europa erobern, die über eine Brücke mit dem Festland des Département Charente-Maritime verbunden ist. Ein Museum im Zentrum der Insel (Maison Éco-Paysanne) erzählt auf Französisch und Englisch, wie sich das Leben auf Oléron über Jahrhunderte gewandelt hat und zeigt dabei auch in einigen Aspekten, wie der Klimawandel für weitere Entwicklungen sorgen könnte.

Wer vom Wasser des rauen Atlantik umgeben ist und weiß, wie sich schon Vorfahren vor Jahrhunderten gegen die Naturgewalten gewappnet haben, der entwickelt fast automatisch einen Hang zum Pragmatismus. Auf der Île d’Oléron wurden schon ganze Wälder gepflanzt, um das Inland vor Sturm und Fluten zu schützen. Als die Lehmbecken, die lange zur Gewinnung von Salz genutzt wurden wegen der Industrialisierung auf dem Festland nicht mehr rentabel waren, wurden sie kurzerhand für die Austernzucht umgenutzt. Die Austern von hier zählen unter anderem deswegen zu den besten der Welt.  

Kulinarisch und kulturell: Auf der Île d’Oléron steht die Auster an vielen Orten im Mittelpunkt.
Kulinarisch und kulturell: Auf der Île d’Oléron steht die Auster an vielen Orten im Mittelpunkt. © Sandra Kathe

Bunt und kreativ: Traditionelle Hütten der Austernbauern in Frankreich mit neuer Nutzung

Die Hütten, in denen die Austernbauern einst lebten und arbeiteten, sind längst zu klein und urtümlich geworden – und dennoch prägen sie das Gesicht der Insel an allen Ecken und Enden. Dass sie auffallen und nicht verfallen, dafür sorgen inzwischen sogar an zwei Stellen der Ostküste kreative Kunstschaffende. Als erstes Projekt wurden die 2004 ins Leben gerufenen „Couleurs Cabanes“ im Örtchen Château d‘Oléron umgesetzt. Inzwischen beheimaten auch etwas weiter nördlich die Cabanes de Créateurs kreative Köpfe.

In jeder der Hütten arbeiten Künstler, Kunsthandwerker, kreative Küchenprofis daran, an die Traditionen der Insel anzuknüpfen – und dennoch immer wieder Neues entstehen zu lassen. Wird eine der Hütten frei, stehen potenzielle Nachfolger üblicherweise Schlange und müssen einen strengen Casting-Prozess durchlaufen und beweisen, dass sie auch menschlich in die kreative Gemeinschaft passen.

In den Couleurs Cabanes arbeiteten einst die Austernbauern der Insel - heute vermietet die Verwaltung die Hütten zum symbolischen Preis an Kunstschaffende.
In den Couleurs Cabanes arbeiteten einst die Austernbauern der Insel - heute vermietet die Verwaltung die Hütten zum symbolischen Preis an Kunstschaffende. © Sandra Kathe

Handwerker auf der Île d’Oléron in Frankreich: Kreative Nutzung für traditionelle Gebäude

Denn das Geld, das spielt bei den Couleurs Cabanes ausnahmsweise keine Rolle: Die Inselverwaltung stellt den Künstlern die Hütten für einen symbolischen Jahrespreis erschwinglich zur Verfügung – und erhält dagegen eine touristische Attraktion, die selbst in so mancher französischen Großstadt ihresgleichen sucht. Zwischen den Cabanes liegt ein Marktplatz mit einem historischen Karussell, das Eltern noch per Hand anschieben müssen, über allem thront die Zitadelle des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Schlosses. Wer vom Steg vor den Cabanes in ihre Richtung schaut, sieht, wo die Bombe eingeschlagen ist.

Zu den Künstlern, die mit Blick auf die Zitadelle arbeiten, zählen ein Ukulelenbauer, Mode- und Schmuckdesigner und Menschen, die sich den praktischen Künsten verschrieben haben. Der Ansturm der Gäste im Sommer hat auch in der Werkstatt von Messerschmied Grégory Lesimple Spuren hinterlassen. Die Auslagen sind wie leergefegt, der Handwerker, der seit über einem Jahrzehnt eine der Cabanes betreibt, geht nach der Saison wieder in die Produktion fürs nächste Jahr.

Grégory Lesimple stellt in seiner Werkstatt Messer her, von denen jedes ein Einzelstück ist.
Grégory Lesimple stellt in seiner Werkstatt Messer her, von denen jedes ein Einzelstück ist. Seine Nachbarn bauen Ukulelen, knüpfen Teppiche und arbeiten an Kunstwerken. © Sandra Kathe

Spezialität an Frankreichs Atlantikküste: Miesmuschel trifft Piniennadel

Für ihn sind auch die Couleurs Cabanes eine Form von Nachhaltigkeit. Er und seine Kollegen halten die Traditionen der Insel gleich im doppelten Sinn aufrecht und verbinden Handwerkskultur mit einer Art kunterbuntem Fenster in eine andere Zeit. Die, als hier noch Austernbauern lebten und nicht ahnten, dass das wichtigste Produkt der Insel einmal zum weltweiten Symbol für Luxus werden würde.

Kulinarisch sind die Traditionen zwischen Austern und Meeresfrüchten hier aber nach wie vor allgegenwärtig und erschwinglich. In kleinen Erzeugerläden, etwa im Schatten des Leuchtturms Phare de Chassiron im Norden der Insel oder im Hauptort Saint-Pierre-d‘Oléron, genau wie in den Restaurants, von denen einige die typische Miesmuschel-Zubereitung „éclade de moules“ perfektioniert haben. Dabei werden rohe Miesmuscheln unter einer Schicht brennender Piniennadeln geröstet und mit Brot und gesalzener Butter als Vorspeise serviert – die Zubereitungsart der Muscheln gilt als typisch für die Insel. 

Gegart und geröstet unter brennenden Piniennadeln: Die Miesmuscheln im traditionellen Gericht „éclade de moules“ haben einen einzigartigen Geschmack.
Gegart und geröstet unter brennenden Piniennadeln: Die Miesmuscheln im traditionellen Gericht „éclade de moules“ haben einen einzigartigen Geschmack. © Sandra Kathe

Reisen an die Französische Atlantikküste: Rocheneier geben Aufschluss über Artenentwicklung

Auch wenn selbst die kreativste Zubereitung kein Vergleich zum Erlebnis ist, die Austern beim Gezeitenfischen frisch aus dem Meer zu ernten – zumindest wenn die gefundenen Meeresfrüche denn die notwendige Größe von Bonnins Schablone erreicht haben. Zurück am Strand angekommen, wartet dann noch eine besondere Aufgabe auf die Gäste der Atlantikinsel: Sie dürfen selbst zu Aushilfsbiologen werden und mithelfen, die Rochenpopulationen zu überwachen.

Mit jeder Flut spült das Meer die Hülsen von Rocheneiern an den Strand, die hier alle paar Hundert Meter in Körben eingeworfen werden können. Bonnin und sein Team sehen so, wie sich Populationen und Unterarten der Fischart, die typisch ist für die Küstenbereiche der Insel, entwickeln. Daraus lässt sich dann einiges über den Lebensraum Meer erschließen.

Anhand von am Strand gefundenen Rocheneiern können die Biologen des Vereins IODDE die Entwicklung von Arten und Populationen erforschen.
Anhand von am Strand gefundenen Rocheneiern können die Biologen des Vereins IODDE die Entwicklung von Arten und Populationen erforschen. © Sandra Kathe

Biologen an Frankreichs Atlantikküste: Vermehrt Vorboten des Klimawandels

Genau wie jeder Ausflug bei Ebbe in Richtung Meer dem Biologen Hinweise darüber gibt, was sich verändert hat – und das sorgt nicht mehr selten für Sorgenfalten. Als er wieder mal einen Stein umdreht, um seinen Begleitern des Tages Spannendes über die Meeresbewohner zu erzählen, Seesterne, Schwämme oder Krebse zu zeigen, verzieht sich sein Gesicht. Die Art Meerwurm, die er samt eines Schlucks Atlantikwasser vorsichtig in einen Becher kehrt, ist neu in der Gegend – den ersten hat er vor einigen Wochen mit einer Schulklasse gefunden.

„Die Art bevorzugt eigentlich die wärmeren Küsten Spaniens oder Südfrankreichs und lässt sich so weit im Norden selten blicken“, erklärt er, als er den Becher verschließt und zu den Hülsen der Rocheneier in seine Korbtasche wandern lässt. Die Arbeit von IODDE begründet sich in Momenten wie diesem, wenn der Klimawandel auf der Insel vorbeischaut, von selbst. Aber zum Glück, sagt Bonnin, nimmt das Bewusstsein für Nachhaltigkeit auch bei den Gästen der Insel mehr und mehr zu – und macht die Île d‘Oléron so auch zum Vorbild und Ideengeber für andere Regionen. (Sandra Kathe)

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